Es ist Sonntagmorgen um 06:30 Uhr. Ich stehe mit meinem Rennrad auf der Hauptstraße mitten in Sölden. Mit mir zusammen warten über 4.000 Teilnehmer auf den Start des Ötztaler Radmarathons 2024. Vor uns liegen an diesem Tag vier Alpenpässe: Kühtai, Brenner, Jaufenpass und Timmelsjoch. Nach 227 Kilometern und 5.500 Höhenmetern wollen wir wieder zurück in Sölden sein.
Auf der Wiese neben uns starten Heißluftballons. Die Begleitfahrzeuge, Polizei und Rettungswagen stehen bereit. Am Himmel fliegt ein Hubschrauber, der für den Livestream filmt. Überall sind Menschen und Rennräder. Die Anspannung ist spürbar. Wir haben alle Monate und Jahre für diesen Tag trainiert. Jetzt soll es endlich losgehen.
Für manche ist es heute ein Wettkampf um eine bestimmte Platzierung. Für mich ist es heute nur ein Überlebenskampf. Noch nie bin ich so weit und so viele Höhenmeter an einem Tag gefahren. Alle vier Alpenpässe bezwingen und am Abend zurück in Sölden sein: das ist mein großer Traum für diesen Tag.

Die Vorgeschichte
Die Geschichte beginnt aber eigentlich schon drei Jahre vorher. Im Jahr 2021 schnüre ich oft meine Laufschuhe und jogge durch den Wald. Trailrunning in den Bergen würde mich reizen. Aber irgendwie zwickt die Hüfte. Bevor ich Marathons durch die Berge jogge, sollte ich besser meine Hüfte checken lassen.
Zum Glück erwische ich einen kompetenten Orthopäden, der zielsicher die richtige Diagnose trifft: Femoro-azetabuläres Impingement (FAI). Meine Hüfte ist noch so weit intakt, dass ich kein Ersatzgelenk brauche. Stattdessen wird arthroskopisch Knochen abgefräst, der Knorpel geglättet und die Gelenklippe wieder angenäht. Am Tag nach der OP gibt mir der Chirurg eindeutig zu verstehen, dass Joggen keine Zukunft für mich hat.
Als ich noch im Krankenhaus im Bett liege, denke ich über Alternativen nach. Fahrrad fahren soll gut für die Hüfte sein. Rennrad könnte mir Spaß machen. Es gibt Radmarathons. In den Alpen. Und da lese ich zum ersten Mal auch vom Ötztaler Radmarathon. Noch ahne ich nicht, dass mich diese Idee nicht so schnell loslässt.
Durch unterbrochene Lieferketten ist die Auswahl an verfügbaren Rennrädern überschaubar. Im März 2022 lacht mich ein blaues Rennrad an. Die Größe passt und es ist ein günstiges Rad für Einsteiger. 2,5 Jahre später stehe ich genau mit diesem Rennrad in Sölden. Den langen Weg dazwischen erzähle ich bei einer anderen Gelegenheit.

Mit der richtigen Strategie in die erste Abfahrt
Von Sölden aus setzt sich das riesige Starterfeld in Bewegung. Zuerst geht es bergab nach Oetz. Die Nervosität ist spürbar und es geht vor allem darum, sicher und ohne Sturz durchzukommen. Gleichzeitig will ich zügig diesen Abschnitt hinter mich bringen, weil der Wettlauf mit der Zeit schon am Start beginnt.
Der erste Kontrollpunkt ist nämlich in Kühtai. Wer am Pass nicht bis 09:30 Uhr oben ankommt, der wird vom Besenwagen eingesammelt. Das bedeutet, die Startnummer wird abgenommen und das Rennen ist beendet. Für die ausgeschiedenen Teilnehmer stehen Busse bereit, mit denen sie wieder zurück nach Sölden gebracht werden. Am Brenner (12:15 Uhr) und am Jaufenpass (14:30 Uhr) sind weitere Kontrollpunkte, die ich rechtzeitig erreichen muss. Danach folgen weitere Kontrollpunkte am Timmelsjoch, die allerdings nicht mehr so streng sind.
Deshalb habe ich mir eine klare Strategie vorbereitet. Ich teile mir meine Kräfte gut ein und will allerspätestens um 14:30 Uhr am Jaufenpass sein. Wenn ich so weit komme, habe ich „nur“ noch das Timmelsjoch vor mir. Das ist mit 1.759 Höhenmetern am Stück der schwerste Anstieg des Tages. Außerdem wird die Luft bis zur Passhöhe auf 2.509 Metern schon ziemlich dünn. Allerdings warten auf der anderen Seite des Berges in Sölden Lea und unsere beiden Mädels im Ziel auf mich. Das reicht mir locker als Motivation, um auch den vierten und letzten Pass zu schaffen.

Sonnenaufgang in Kühtai
Nach Oetz geht es direkt in den ersten Anstieg nach Kühtai. Es ist steil und das Feld ist dicht zusammen. Vor mir verhaken sich 2-3 Fahrer und stürzen. Ich finde zum Glück eine Lücke und kann weiterfahren. Auf schönen Straßen durch den Wald steigen wir immer höher. Jetzt kommt zum ersten Mal die Sonne über den Berg und die Umgebung ist einfach nur traumhaft.
Ich versuche so entspannt wie möglich nach oben zu fahren und Kräfte zu sparen. Das gelingt mir relativ gut und ich erreiche um 09:05 Uhr die Passhöhe in Kühtai. Damit habe ich zumindest den ersten Berg geschafft und sogar 25 Minuten Vorsprung auf den Besenwagen. Die Sonne scheint und es ist trocken. Ich fühle mich gut und bin jetzt im Rennen angekommen.
In Kühtai ist auch die erste Verpflegungsstation oder genauer die erste Labe, wie der Österreicher sagt. Dort ist allerdings meistens eine große Hektik. Deshalb halte ich kurz davor am Brunnen und fülle dort meine Trinkflasche auf. Nach wenigen Sekunden sitze ich wieder auf dem Rad und fahre an der Labe vorbei. Tatsächlich wirkt es dort sehr chaotisch und ich bin froh, dass ich am Brunnen mein Wasser geholt habe.
Ich stürze mich in die Abfahrt. Auf den ersten Metern mache ich während der Fahrt meine Weste zu und die Armlinge hoch. Sowohl den Tipp zur Bekleidung als auch den Trick mit dem Brunnen habe ich Urban Gstrein zu verdanken. Bei einem Trainingslager in Sölden im Juli habe ich viele Tipps von Urban aufgesaugt, die mir heute helfen. An dieser Stelle nochmal vielen Dank für die Unterstützung in der Vorbereitung!

Gemeinsam im Gegenwind
Nach einer schnellen Abfahrt geht es jetzt Richtung Innsbruck und weiter zum Brenner. Auf diesem Abschnitt ist es eher flach und es gibt viel Gegenwind. Vor dem Rennen hatte ich die Sorge, dass ich hier allein im Wind fahren muss. Das hätte viel Kraft und viel Zeit gekostet.
Ich kann mich jedoch gut positionieren und finde immer wieder gute Gruppen. Vereinzelt muss ich etwas stärker in die Pedale treten, um die Lücke zu einer schnellen Gruppe zu schließen. Das zahlt sich aber meistens aus und so komme ich schon um 11:39 Uhr am Brenner an. Jetzt sind es sogar 36 Minuten Puffer bis zum Besenwagen.
Nach dem Brenner bin ich in Italien angekommen und habe schon zwei von vier Pässen hinter mir gelassen. Allerdings habe ich einen Großteil der Höhenmeter noch vor mir. Ich fülle kurz meine Trinkflaschen und es geht bergab nach Sterzing.

Wettrennen mit dem Besenwagen am Jaufenpass
So langsam macht sich die Belastung bemerkbar. Ich sitze schon über sechs Stunden im Sattel und es geht wieder bergauf. Um 14:30 Uhr muss ich oben am Jaufenpass sein. Mein Puffer wird kleiner und das Zeitlimit motiviert mich in die Pedale zu treten. Nur noch den Jaufenpass schaffen, danach habe ich genug Zeit fürs Timmelsjoch.
Kurz schleicht sich der Gedanke ein, einfach am Jaufenpass in den Bus zu steigen und entspannt zurück nach Sölden zu fahren. Ich kenne mich aber zu gut, dass das keine Option ist. Ich trete weiter in die Pedale. Eine letzte Linkskurve aus dem Wald heraus und die Serpentinen zur Passhöhe werden sichtbar.
Im Aufstieg fährt zuerst ein Transporter links an mir vorbei mit der Aufschrift Besenwagen. Es folgen ein großer Reisebus, ein kleiner Bus und Großraum-Taxis. Insgesamt sind es bestimmt über zehn Fahrzeuge, die mich überholen und alle die Aufschrift „Besenwagen“ tragen. Dann kommt sogar der offizielle Besenwagen vorbei. Sie machen sich jetzt schon bereit, am Jaufenpass alle einzusammeln, die zu spät oben ankommen. Bei diesem Anblick bin ich komplett fokussiert: ich fahre auf keinen Fall mit dem Bus nach Sölden. Ich kann sogar mein Tempo leicht erhöhen. In den letzten Kurven bildet sich ein Stau der Fahrzeuge und ich kann die ganze Armada an Besenwagen überholen. Das bringt mir zwar eigentlich nichts, aber es ist gut für meine Motivation.

So nah und doch so fern
Hochmotiviert erreiche ich die Labe am Jaufenpass um 14:06 Uhr. Ich habe es tatsächlich geschafft! Als Erstes muss ich trinken und mir Wasser holen. Ich lehne mein Rennrad an mich und schraube meine Trinkflasche auf. Plötzlich fällt mein Rad einfach um. Der Aufstieg am Jaufenpass und der mentale Kampf mit dem Zeitlimit haben Kraft gekostet. Ich muss mich kurz sammeln und wieder konzentrieren.
Beim Auffüllen meiner Trinkflasche wird mir bewusst, dass meine Strategie bisher perfekt funktioniert hat. Jetzt kann ich mir zum ersten Mal vorstellen, dass ich es heute wirklich schaffen kann. Ganz freudig sage ich zu meinem Gegenüber an der Labe: „Wir haben’s geschafft!“ Er ist allerdings völlig irritiert und antwortet nur „Du weißt schon, was noch kommt?“
In meinem Kopf kommt aber „nur“ noch das Timmelsjoch. Dafür habe ich jetzt viel Zeit und ich bin mir sicher, dass ich das schaffe. Schließlich wartet meine Familie im Ziel auf mich. Mit dieser Gewissheit fahre ich weiter nach St. Leonhard, um den schwersten Pass des Tages in Angriff zu nehmen.

Der letzte Kampf am Timmelsjoch
Vor mir warten 1.759 Höhenmeter. Voraussichtlich werde ich jetzt drei Stunden am Stück bergauf fahren. Aktuell ist es noch vor 15:00 Uhr und ich muss bis 19:15 Uhr oben sein. Damit ist der Zeitdruck endlich weg und ich fahre entspannt in den letzten großen Anstieg des Tages.
Mein linkes Knie zwickt ein bisschen. Ich spüre es vor allem, wenn ich kurzzeitig aufstehe und im Wiegetritt fahre. Solange ich aber ruhig und rund trete, geht es gut. Ansonsten geht es mir erstaunlich gut. Die Verpflegung mit meinem Kohlenhydrat-Mix aus der Trinkflasche funktioniert auch und gibt mir hoffentlich genug Energie für die letzten Kilometer. Gels und Riegel habe ich noch in der Trikottasche, aber irgendwie habe ich darauf keine Lust mehr.
Im Anstieg treffe ich noch eine andere Teilnehmerin und wir unterhalten uns im Anstieg. Gemeinsam steigen wir Kehre um Kehre immer weiter hinauf Richtung Timmelsjoch. Vielleicht ist es das angenehme Gespräch. Vielleicht ist es das schöne Wetter. Vielleicht ist es die traumhafte Aussicht. Auf jeden Fall genieße ich den Anstieg und die Zeit vergeht wie im Flug.
Nur die letzten 250 Höhenmeter wird es anstrengend und ich muss kämpfen. Die Luft wird immer dünner und ich merke, wie mein Körper leidet. Mir wird leicht schwindelig und zum ersten Mal etwas übel. Jetzt kann ich mein Zuckerwasser nicht mehr trinken. Als jedoch der letzte Anstieg zum Tunnel vor mir liegt, bekomme ich neue Energie. Voller Energie trete ich die letzten Höhenmeter hinauf und rein in den Tunnel. Am Ende des Tunnels fahre ich ins Licht. Geschafft, ich bin ganz oben!

Tränen im Fahrtwind
Jetzt habe ich nur noch die Abfahrt nach Sölden vor mir. Der kurze Gegenanstieg zur Mautstation brennt kurz in den Oberschenkeln, aber ist nach wenigen Minuten auch hinter mir. Als ich meine Jacke für die Abfahrt überziehe, geht die Sonne gerade hinter den Bergen unter. Es wird schon kalt und ich spüre die Müdigkeit im Körper.
Mir wird bewusst, dass ich es wirklich geschafft habe. Am Morgen um 06:30 Uhr war das Ziel so weit weg. Jetzt trennen mich nur noch wenige Meter und ich kann meine Familie in die Arme nehmen. Vom kalten Fahrtwind tränen meine Augen. Vielleicht ist es auch nicht nur der Fahrtwind.
In Sölden stehen Zuschauer am Straßenrand und jubeln jedem Einzelnen zu. Die letzte Kurve und über die Brücke ins Ziel. Ein Traum wird wahr! Lea kommt mit unseren beiden Mädels angerannt und wir umarmen uns. Ein Moment für die Ewigkeit, wir haben es geschafft. Vielen Dank für die Unterstützung in den Monaten der Vorbereitung und als riesengroße Motivation vor Ort!

Das Finisher-Trikot
Unsere große Tochter (6 Jahre) wollte freitags nicht nach Sölden fahren und daheim im Bett liegen bleiben. Sie hatte Angst, dass ich nicht ins Ziel komme und mit dem Besenwagen zurückfahren muss. Sie hat gespürt, wie wichtig es mir ist und hat so sehr mitgefiebert. Natürlich ist sie trotzdem mitgekommen. Sie freut sich im Ziel wahrscheinlich noch mehr als ich, dass ich es geschafft habe.
Unsere Kleine (4 Jahre) gibt mir im Ziel direkt eine kleine Pizzastange. Es war die letzte in der Packung, die sie nachmittags gegessen haben. Sie meint, dass ich bestimmt hungrig bin nach dem Radfahren und hat mir die Pizzastange extra aufgehoben.
Nach dem Zieleinlauf wollen unsere Mädels sofort mein Finisher-Trikot abholen. Nur wer das Ziel aus eigener Kraft erreicht, bekommt dieses Trikot. Es ist die Trophäe und die Belohnung für diesen besonderen Tagen. Unsere Mädels nehmen an der Ausgabe das Trikot für mich stolz in Empfang.

Für meine Kinder wünsche ich mir, dass sie gesund und sportlich sind. Ich wünsche mir, dass sie mutig durchs Leben gehen, große Träume wagen und ihre persönliche Leidenschaft leben. Dafür muss ich aber bei mir selbst anfangen. Ich muss ihnen das alles vorleben und für sie ein Vorbild sein. Ich gebe mein Bestes, dass mir das gelingt. Deshalb werde ich sicher auch nach dem Ötztaler Radmarathon eine neue große Herausforderung finden.